Sündenbock
In unscheinbaren Pappordnern bräunlich-grauer Färbung erreichen einige der schlummernden Dokumente aus der Zeit des Balver Hexenwahns den Münsteraner Lesesaal des LWL Archivamts für Westfalen.Ganz klar ist dieses Buch ein frei erfundener Roman – jedoch fußt seine Handlung auf den Überlieferungen und Akten aus dem ehe-maligen Amt Balve. Die Bettlerin Anna im Dreck, eines der ersten tatsächlichen Opfer des Hexenwahns, die Bürgermeisterin [deren Name Anneken Flörken aus einem Brief und dem Gedicht von Josef Pütter „Wachtläuh-Räusen“ („Wachtloh-Rosen“) zusammengesetzt wurde] und das Personal des Gerichts wie Henrich Roeßen und Johannes Höyngk sind historische Personen, ebenso ist das verübte Attentat auf den ungeliebten Hexenkommissar Caspar Reinhartz eine überlieferte Tatsache wie auch die dargestellten Abläufe der Prozesse. Auch wenn die Charaktere, die hier agieren, natürlich nicht vollends mit den historischen Vorbildern überein-stimmen können und werden.Die Überlieferung für das Amt Balve ist im Vergleich zu anderen Städten, trotz zahlreicher Stadtbrände und Wirren der Zeiten, recht gut erhalten. Das Archiv aus dem Sitz des Balver Drosten, dem Schloss Melschede, das unter anderem über die Prozesse Auskunft gibt, ist nach Münster umgezogen und lagert dort gut verwahrt in den Händen der Archivmitarbeiter. Erhalten sind unter anderem das Protokoll eines Verhörs, in dem eine Catrin Koening aus Affeln ihren Peinigern Rede und Antwort steht, aber auch die kalte, juristische Korrespondenz zwischen den rechtlichen Organen, die über die Schicksale der verdächtigen „Zauberischen“ zu entscheiden hatten. Briefe des Balver Richters Johannes Höyngk an seinen „hochedelgeborenen, strenggebietenden Herrn Droste“, Ferdinand von Wrede, dem Nachfolger Stephan von Wredes, unter Bezugnahme auf den Rat des Lizentiaten Caspar Reinhartz, sind ebenfalls erhalten und nennen Namen der zweiten großen Verfolgungswelle in den 1650er Jahren.Erschrocken war ich tatsächlich kurz nach meinem ersten Besuch 2011 im Münsteraner Archiv, als mir gleich auf der ersten Seite des Berges an Briefen Höyngks in fast unleserlicher Schrift und in verschachteltem Deutsch ein Name entgegenleuchtete, der mir nur allzu vertraut war – auch wenn ich zweimal hinsehen und ihn mühsam entziffern musste. Denn auch ein Grevener, ein gewisser Herman Grevener, hat sich offenbar zu dieser Zeit etwas zuschulden kommen lassen. So wurde der Wahn plötzlich auf eine sehr persönliche Ebene hinabgebrochen, denn meine Familie hat ihre Wurzeln im Balve benachbarten Garbeck. Dieser Herman Grevener könnte also einer meiner direkten Vorfahren sein. Schon zuvor hatte ich mich bei der gewaltigen Anzahl an Opfern und der recht kleinen Bevölkerungszahl gefragt, ob jemand aus meiner Familie den letzten schweren Gang zum Balver Galgenberg hatte gehen müssen. Immerhin starb jeder zwanzigste Einwohner (die Einwohnerzahl des Amtes Balve wird auf 6000 geschätzt) in den Mühlen der damaligen Justiz. Aber einen konkreten Hinweis in den Gerichtsakten auf einen Vorfahren zu finden, der in verblichener Tinte plötzlich vor mir stand, war dann doch ein emotionaler Moment.Ob Herman Grevener als Zauberischer verurteilt wurde, steht nicht im Brief des Richters, nur seine Bestrafung. Herman Grevener wurde gebrandmarkt, mit Ruten „außgestrichen“ und dann des Landes verwiesen. Wahrscheinlicher ist eine Verurteilung in Bezug auf sein mögliches Amt als „Procurator“ (eine Art „Anwalt“ und Rechtsberater), der seiner Partei wissentlich einen gefährlichen Weg bei ihrem Prozess geraten hat. Die Carolina, die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V., die damals gültige Rechtsordnung, nennt die gegen Herman Grevener verhängten Strafen zumindest im Artikel 115, in dem es um diesen Straftatbestand geht, und ein weiterer Grevener ist als „Dorfrichter“ überliefert. Der erfundene Thonis Schulte, der Vater meiner Heldin Marie, basiert auf diesem Fund.Sicherlich wird es so mancher Familie aus Balve, Affeln, Garbeck, Mellen und weiteren Orten des alten Amtes Balve so gehen, wenn sie in dieses Buch schauen. Denn immer wieder tauchen Namen auf, die sich bis heute erhalten haben. Der Hexenwahn des 16. und 17. Jahrhunderts betrifft also direkt noch viele ansässige Familien, wird plötzlich persönlich greifbar, auch wenn er schon vor einigen hundert Jahren stattgefunden hat.