Roman
Thomas Bruno Hesse ist kein Held. In seiner Jugend als sensibler Mensch verletzt, setzt er sich in seinem Hass auf Mittelmäßigkeit unerreichbare Ziele, die er in rastloser, geradezu extremer Weise anstrebt, an denen er aber immer scheitert. Sein Drama ist durch die Kompromisslosigkeit seiner Maßstäbe wie programmiert. Zynisch ist die Art, wie er Personen behandelt, auch solche, die ihn lieben. Zeigt sich hier ein Bild des orientierungslosen, überehrgeizigen, zu Bindungen unfähigen, nur sich selbst bespiegelnden und sich zerstörenden modernen Menschen?
Die Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern verknüpft zahlreiche Handlungsstränge, Stilebenen, Rückblenden und eine Fülle von Charakteren zu einem plausiblen Ganzen. Beispielhaft für die strukturellen Varianten sind Briefe an Jelena, das Requiem, das Logbuch des Todes, die lyrischen Einleitungen, das altgriechische Theaterstück, die häufigen Einbindungen sauerländischer oder afrikanischer Mythen und Sagen. Der Roman bietet neben der menschlichen Geschichte einen Blick in das Handwerk des Orgelbaus, in die Welt des Jazz und auf Berliner U-Bahnhöfe, partizipiert an der Nach-68er-Republik, streift die literarischen Vorbilder des Autors: Schubert, Keller, Hölderlin, Rilke, Celan, die Philosophen Schopenhauer und Nietzsche. Und man lernt Hermann Hesse neu kennen, dem das Buch auf geheimnisvoll spürbare Weise gewidmet zu sein scheint.
Hardcover, Preis: 29,90 Euro
Erscheinungsdatum: Oktober 2023
Umfang: 464 Seiten
ISBN 978-3948496678
Auszug – Seite 306 – 308
Ich habe null Bock auf euch
oder
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Hesse passierte die erste Polizeisperre. „Ausweis!“, knurrte der Polizeibeamte. „Wie bitte?“„Den Personalausweis, bitte!“ Hesse war genervt. „Sagt mal, ist das hier ein Bürgerkrieg mit Ausgangssperre oder was soll das?“ Er wollte weitergehen. Die anderen Beamten, die bis dahin locker gruppiert unter dem Schein der Straßenlaterne gewartet und lässig Zigaretten geraucht hatten, richteten sich auf, führten die Hände in Richtung Hüfte und kamen drohend näher. Hesse merkte: Die Anspannung, unter der sie standen, wollte zum Ausbruch kommen. „Welches Gesetz sagt, dass ich mich in Hamburg als unbescholtener Passant ausweisen muss? Ich kenne keins.“ Die Polizisten hatten ihn eingekreist, der Weg war versperrt. „Junger Mann, das ist meine letzte Aufforderung. Hier gibt es kein Gelaber! Den Ausweis!“ Hesse roch in seinem Atem die Hackboulette, die wohl sein Abendessen gewesen war. „Zeigt mir euren Einsatzbefehl.“ Hesse war noch mutig. „Das ist mein Recht, mein Bürgerrecht.“ „Ihr renitenten Arschlöcher“, zischte da der Beamte und sprang auf Hesse zu. Gleichzeitig spürte er, wie sein Arm in einem unmöglichen Winkel auf seinem Rücken verdreht wurde. Der Schmerz nahm ihm fast den Atem. Ein dritter Ordnungshüter riss gewaltsam seine Beine auseinander, indem er ihm seinen Oberschenkel mit dazugehörigem Stiefel in den Schritt stellte. „Wenn du glaubst, du kannst hier Pogo machen, bist du schief gewickelt. Wir sind schon mit ganz anderen fertiggeworden.“ Hesse sah noch ein goldenes Sternchen auf dessen Jacke, als er einen Schlag auf den Hinterkopf bekam, nach vorne stolperte und aufs Parkett fiel. „Du anarchistisches Stück Scheiße!“, schäumte der Hochdekorierte. „Wo hast du den Ausweis?“, und er wühlte in Hesses Mantel. „Ja, is ja gut!“ Hesses Kopf dröhnte. „Ihr habt gewonnen! Ihr habt verdammt noch mal gewonnen!“ Und er versuchte, mit der freien Hand sein Portemonnaie aus der Hosentasche zu ziehen. Drüben auf der Werft sah er den Funkenflug eines Schweißgerätes in die Nacht sprühen. Er spürte den Stiefel im Kreuz und hielt still. „Thomas Bruno Hesse“, las das hochdekorierte Sternchen sachlich. „Was wollen Sie hier?“ „Ich bin zu keiner Auskunft verpflichtet.“ Hesse bewahrte seinen Bürgermut auch noch, als sein Kinn übel auf die Steine gequetscht wurde. „Pass mal auf, du versnobter Scheißer. Und wenn du der Papst oder sonst was bist, ich reiß dir den Arsch mitsamt deiner Boss-Hose auf, wenn du nicht gewillt bist, mit uns zusammenzuarbeiten.“ Hesse wollte eigentlich nicht arbeiten. Er wollte nur einen Bekannten besuchen. Der wohnte zurzeit wohl in einem Kriegsgebiet. Das hätte der auch andeuten können. „Nichts, nur ein Besuch.“ Als sie Hesse runter bis zu den Hoden gefilzt und seine Personalien aufgenommen hatten, konnte er gehen. Die Schulter schmerzte ihn. Die zweite Sperre passierte er problemlos und auch die dritte ließ ihn glatt durch. Sie hatten sich wohl über Funk abgesprochen. Hesse kochte. Hätte er ein Schwert gehabt, er hätte blankgezogen, in die grüne Übermacht eingestochen und den einen oder anderen enthauptet. Ihn schüttelte es. „Ich bin es!“ Er klopfte laut an die verbarrikadierte Tür. Dann trat er einen Schritt zurück. Ganz oben öffnete sich ein Fenster. Ein Kopf schaute nach allen Seiten. In einem zweiten Fenster im ersten Stock erschien ein Latino-Gesicht, hielt einen Fotoapparat mit montiertem Blitzlichtgerät nach draußen und drückte ab. Für den Bruchteil einer Sekunde war die gespenstische Szenerie in gleißendes Licht getaucht. Dann, nach einer Weile, flog ein Schlüssel herunter. Auf der Fassade stand gemalt: „Haut ab. Geht doch kacken.“ Hesse grinste. Hier hatte er seine Freiheit. Unabhängiges, selbstbestimmtes Leben, Verzicht auf Komfort und Konsum, keine Führung, keine hierarchischen Strukturen. Er wollte Josef besuchen. Ihm eine Frage stellen. Josef sprach leise, hatte einen sanften Händedruck und ein sanftes Wesen. Er ging mit den anderen über hundert Bewohnern auf in der Sanierung dieser zwölf Häuser der Hafenstraße. Josef hatte als Schiffsingenieur und als Grafikdesigner gearbeitet. Zuletzt war er ein gut bezahlter Programmierer gewesen. Hesse hatte ihn über den abtrünnigen Jörn Lose kennen und schätzen gelernt, bevor sich Josef aufmachte, Blochs Utopie realiter umzusetzen und sich zu den Hausbesetzern zu begeben. Hesse nahm die Tür, ging rechts an der so genannten Volxküche vorbei, öffnete ein paar der armierten Wohnungstüren, an denen schon manche Kettensäge der Polizisten gescheitert war, erklomm eine marode Treppe, wagte gar nicht erst, das Geländer zu fassen, und stand plötzlich ohne Licht da. Die Zeitschaltuhr tauchte das Treppenhaus 116 ins Dunkel. Hesse aber kannte den Weg. Er tastete sich nach oben und stand im Zimmer von Josef. Der grüßte cool und winkte ihm, sich zu setzen. Eine abgewetzte Matratze lud Hesse ein. In dem Bretterregal stand Literatur über Che Guevara. „Guten Abend, Herr Dr. Hesse!“ Josef hieß ihn mit spöttischem Gesichtsausdruck willkommen. „Wie stehen die Aktien?“ „Habt ihr Stress mit den Bullen?“ Hesse ließ sich auf die Matratze sinken. „Wir leben in dem viel beschworenen, permanenten Ausnahmezustand“, grinste Josef, reckte mit revolutionärer Geste die Faust in die Höhe und ließ sich gemütlich in seinem Baststuhl nach hinten fallen. Sie sprachen über dieses und jenes und der Joint machte seine Runde. Sie sprachen vom Hamburger Schietwetter und über den Bullenkrieg und Josef ließ ein wenig Koks springen. Sie sprachen vom Kampf der Selbstbestimmung hier in der Hafenstraße und von den Scheinverhandlungen des Senats mit der Räumungs- und Abrisspistole buchstäblich an ihrem Kopf, über Jörn Lose, der zusammen mit anderen Hackern gerade in militärische US-Netzwerke einbrach, um die Daten an den KGB zu verkaufen, natürlich nur aus ideellen Gründen und Neugier, und über die Silberfischchen in der Küche, die sich partout nicht entfernen lassen wollten. Hesse begann zu frieren.
Damian Maria Rabe
Über den Autor
Damian Maria Rabe
Damian Maria Rabe alias Ralf Böcker hat als Musiker, Komponist und Autor sein Handwerk auf der Straße gelernt. Schon als 16-Jähriger tourte er als Straßenmusiker durch Europa. Nach dem Abitur machte er eine Orgelbau-Lehre. Heute ist er Musiklehrer für diverse Instrumente, Komponist vieler Genres sowie Bandleader und Freelancer für Bands in ganz Deutschland und international. Seit 2022 lebt und arbeitet Ralf Böcker als Jazzmusiker und klassischer Komponist in Washington D.C., USA. Neben seiner Musikertätigkeit schreibt Ralf Böcker Novellen, Kinderbuchgeschichten und Lyrik.„Hesse geht“ ist sein erster Roman.
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